Instandsetzung von historischen Strassenbauten im Alpenraum

Im 19. Jahrhundert schufen Ingenieure, Strassen- und Tunnelbauer zahlreiche neue, fortschrittliche Strassen und «Kunstbauten». Sie ermöglichten eine gegenüber den vorhergehenden Jahrhunderten einfachere und schnellere Querung der Alpen, die als natürliches Bollwerk dem Handel zwischen Nord und Süd im Weg standen. Ab 1800 wurden u.a. Strassen über Simplon-, Splügen-, San Bernardino- und Gotthardpass gebaut, die auch heute noch den alpinen Kulturraum prägen. Starke Belastungen durch den zunehmenden, modernen Strassenverkehr sowie Witterungseinflüsse führen bei vielen der 100- bis 200jährigen Strassen zu umfassenden Unterhaltsarbeiten oder der Notwendigkeit von Erneuerungs- und Instandhaltungsprojekten. Verschiedene Kantone haben im Zuge konkreter Instandsetzungsarbeiten Grundlagen und Strategien entwickelt, die gerade auch bei dringenden Sanierungsarbeiten beispielhaft genutzt werden können.

Die Ingenieur- und Bautechnik hat sich im 19. Jahrhundert stark weiterentwickelt und damit den alpenquerenden Verkehr grundlegend verändert. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Kunststrassen über die Schweizer Alpen gebaut. Zuerst die Simplonpassstrasse, die das Wallis mit Italien verband (und die Napoleon für den Transport seiner Artillerie nutzen wollte), dann die Kommerzialstrassen im Kanton Graubünden über den Splügen- und San Bernardinopass sowie im Kanton Uri die Gotthardpassstrasse in den 1820er und 1830er Jahren.

Nur wenige Jahre später begann 1847 mit der «Spanischbrötlibahn» das Zeitalter der Eisenbahn, die zunächst mit weiteren Linien durch das Mittelland als Zubringer zu den alpenquerenden Fahrstrassen diente. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden diverse Pläne zum Bau eines Eisenbahntunnels für den Nord-Südverkehr durch die Alpen, die 1882 in der Eröffnung des Gotthardtunnels gipfelten. Daraufhin brachen die Warentransporte über die Bündner Passstrassen ein, sie verlagerten sich auf die Eisenbahn durch den Gotthard. Bei den später gebauten Strassen über den Klausenpass (1893 bis 1899) oder über den Sustenpass (1938 bis 1946) waren touristische Aspekte (Klausenpassrennen, Panoramastrasse für den Auto-Sonntagsausflug beim Susten) von Beginn an zentral.

Prägende Bauwerke des 19. Jahrhunderts
Für die historischen Verkehrswege hatte der Alpentransit seit jeher eine besondere Bedeutung. Ab 1800 nahmen die sorgfältig geplanten und gebauten Kunststrassen mit ihren Tunnels, Lawinengalerien, Brücken und Bachdurchlässen (ital. Tombini) eine zentrale Funktion ein. Über sie verlief vorwiegend der Handel zwischen Nord- und Südeuropa. Der Bedeutungsverlust der Kunststrassen nach der Eröffnung des Gotthardtunnels trug wesentlich dazu bei, dass viele Passstrassen ihre wertvolle, intakte Bausubstanz bis weit ins 20. Jahrhundert retten konnten. Die Passtrassen dienen heute mehrheitlich dem touristischen Verkehr. Doch auch im Zeitalter der Tunnels bleiben sie ein wichtiges und immer noch stark befahrenes Element des alpenquerenden Verkehrs.

Heutige Strassennutzung und denkmalpflegerische Grundsätze im Einklang
Damit diese trotz Zeit- und Kostendruck den Ansprüchen des modernen Strassenbaus sowie den denkmalpflegerischen Grundsätzen des Erhalts historischer Wege und Objekte entsprechen, braucht es ein planvolles Vorgehen. Verschiedene Kantone haben im Zuge konkreter Instandsetzungsarbeiten entsprechende Erfahrungen gesammelt und die notwendigen Grundlagen und Strategien dokumentiert. Bei Sanierungsarbeiten kann auf diese wertvollen Erfahrungen zurückgegriffen und das erarbeitete Instandsetzungs-Know-how genutzt werden. Sie erleichtern es den Bauherrschaften, die heutigen Ansprüche an die Strassennutzung und die denkmalpflegerischen Grundsätze in Einklang zu bringen. Denn Passstrassen weisen eine eigene Sprache der baulichen Gestaltung auf. Durch das Zusammenspiel von Materialisierung, der Art der Bauwerke, vorhandener Wegbegleiter etc. sind sie als Einheit zu betrachten. Aus diesem Grund sollten bei Instandsetzungen und Unterhaltsarbeiten die Massnahmen unbedingt nicht nur abschnittweise geplant, sondern über die gesamte Strecke ganzheitlich definiert werden.

Beispiel 1: Richtplan Sustenpassstrasse
Um den denkmalpflegerischen Aspekten der Sustenpassstrasse gerecht zu werden, hat der Kanton Bern – mit Unterstützung des ASTRA – eigens einen Richtplan erstellen lassen. Der «Richtplan Sustenpassstrasse» hält «die gestalterische und denkmalpflegerische Qualitätssicherung beim Betriebs- und/oder Erneuerungserhalt der Sustenstrasse» fest. Ob bei Planungen, Baugesuchen oder im Unterhalt: Der Richtplan dient als Arbeitsinstrument, um die historische Passstrasse über den Susten integral zu erhalten. Verschiedene Massnahmenblätter beschreiben einzelne Aspekte detaillierter, z.B. das Normalprofil oder die Erhaltung von Einzelobjekten (wie Tunnels oder Schutzbauten vor Naturgefahren).

Weitere Informationen
Grundsatz «Das Ensemble respektieren»: Der Richtplan Sustenstrasse, IVS-Fachtagung 2008.
Haupt, Isabel. Erinnerbare Landschaft – promenade d’ingénieur: über den Richtplan zur Sustenpassstrasse, in: Werk, Bauen und Wohnen 96 (2009), E-Periodica, ETH Zürich,

Beispiel 2: Gestaltungsplan Kanton Uri
Um dem Verlust an denkmalpflegerisch wertvoller Originalsubstanz und der Beeinträchtigung des landschaftswirksamen Erscheinungsbilds entgegenzuwirken, gab der Regierungsrat des Kantons Uri 2018 die Erarbeitung eines generellen Gestaltungskonzepts für die historisch bedeutenden Urner Passstrassen in Auftrag.

Das Gestaltungskonzept gliedert sich in einen allgemeinen Teil und in ein Gestaltungshandbuch. Im Mittelpunkt des allgemeinen Teils steht neben praktischen Ausführungen eine ausführliche Erläuterung der Grundsätze für die Erhaltung historischer Verkehrswege, die in der Vollzugshilfe des Bundes formuliert worden sind. Das Gestaltungshandbuch diskutiert den gestalterischen Umgang mit den verschiedenen Typen von Kunstbauten, Leit- und Rückhaltesystemen sowie weiteren historischen Bauelementen.

Weitere Informationen
Doswald, Cornel. Erhaltung – Homogenität – Integration, in: Wege und Geschichte 01/2021.
ASTRA, EKD, ENHK (Hg.): Technische Vollzugshilfe. Erhaltung historischer Verkehrswege. Vollzugshilfe Langsamverkehr, Nr. 8. Bern 2008.
Kanton Uri (Hg.): Gestaltungskonzept Urner Passstrassen. Altdorf 2021.

Beispiel 3: Instandsetzung der Splügenpassstrasse
Eine Vielzahl von traditionellen Natursteinmauern, Brücken und eine einmalige Lawinengalerie prägen die gut 200 Jahre alte Strasse über den Splügenpass, die seit mehreren Jahren etappenweise instandgesetzt wird. Das Ziel ist es, den hohen bauhistorischen Wert mit einer sicheren Strassenführung für die kommenden Generationen zu erhalten.

Die Planungsarbeiten für die Instandsetzung der gesamten Strassenanlage am Splügen waren anspruchsvoll. Vor der Projektierung der gesamten Passstrasse wurden verschiedene Varianten von Mauern und Absturzsicherungen diskutiert und entsprechende Prototypen erstellt. In enger Zusammenarbeit des Tiefbauamts und der Denkmalpflege Graubünden, der für die Planung zuständigen Ingenieursunternehmung und den beauftragten regionalen Baufirmen wurde eine ausgewogene Lösung gefunden zwischen landschaftsgestalterischen Aspekten, Erhaltung der historischen Bausubstanz und modernen Bauelementen – wie zum Beispiel einer nicht sichtbaren Betonverstärkung, die die Tragfähigkeit der Mauern erhöht. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass es am Splügenpass gelingt, mit diesem ganzheitlichen Ansatz die Anforderungen von moderner, sicherer Strassenführung im alpinen Raum sowie den Schutz und Erhalt der wertvollen, historischen Bauwerke perfekt in Einklang zu bringen. Ein Leuchtturmprojekt für das Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz, das die IVS-Fachstelle des ASTRA mit ihrer Fach- und Finanzunterstützung begleitet hat.

Weitere Informationen
Marx, Ulrike. Verkehrssicherheit und traditionelle Bautechnik, in Wege und Geschichte, Juni 2024 (noch nicht erschienen)
Bundesamt für Strassen ASTRA: Historische Verkehrswege. Ein Beitrag zur Erhaltung eines schweizerischen Kulturgutes (Materialien Langsamverkehr 156). Bern 2023.
Daniela Dietsche: Ein Bergdorf an der Autobahn, in TEC21, 11/2021.